24. Juni 2010
Tränen werden getrocknet
Bruder und Schwester sind in den letzten Kriegstagen getrennt worden. Mit dem großen Treck flüchteten sie vor der Roten Armee, die Kinder verloren erst ihre Eltern, dann verloren sie sich aus den Augen. Er schaffte es bis Kiel, sie bis Dittersdorf. In Deutschland entstanden Besatzungszonen, dann die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, die zu feindlichen Lagern gehörten. Der Kalte Krieg war ein Alptraum am Abgrund.
Irgendwann machte sich der Bruder auf die Suche nach der Schwester, das Deutsche Rote Kreuz half dabei. So fanden sie sich wieder. Sie wollte die DDR nicht verlassen. Zwischen ihnen stand eine Mauer, eine Todesgrenze mit Stacheldraht und Schießbefehl. Besuche waren nur von West nach Ost möglich.
In Dittersdorf wuchs ein Mädchen heran, das als junge Frau gern einmal gesehen hätte, wo und wie Tante und Onkel in Kiel wohnen. Bei einer Fahrt durch das Erzgebirge fragte sie mich, ob das irgendwann möglich sei.
"In vier Jahren feiert deine Tante in Kiel einen runden Geburtstag. Du wirst dabei sein", verbreitete ich im Auto Optimismus. Die DDR rauschte draußen an uns vorbei.
"Meinst du wirklich?"
"Was Gorbatschow macht, begreifen eure Funktionäre doch gar nicht. Die sind bald weg. Dann wird Egon Krenz Staatsratsvorsitzender. Dann kommt Schwung in die Sache."
Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. "Die Leute hier mögen Gorbatschow."
"Weil aus seinem Anzug kein Kalk rieselt?"
Sie lachte - wie vier Jahre später, als sie in Kiel zur Geburtstagsgesellschaft gehörte. Immer wenn meine Frau und ich Dittersdorf wieder verließen, hatte sie geweint. Friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten hatten auch ihre Tränen getrocknet.
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